Dissertation DIS-2003-06

Bibliograph.
Daten
Sommer, Ove: Interaktive Visualisierung von Strukturmechaniksimulationen.
Universität Stuttgart, Fakultät Informatik, Elektrotechnik und Informationstechnik, Dissertation (2003).
165 Seiten, deutsch.
CR-Klassif.I.6 (Simulation and Modeling)
KeywordsZeitdiskrete Simulation; Visualisierung; Szenengraph; Dreidimensionale Computergraphik; Crash-Test
Kurzfassung

A) Motivation und Problemstellung

Der Computer ist heute eines der wichtigsten Hilfsmittel beim Entwurf und der Entwicklung von Fahrzeugen. Zunächst wurde er von Konstrukteuren für das Computer Aided Design (CAD) von virtuellen Fahrzeugmodellen eingesetzt. Inzwischen ist er in vielen anderen Bereichen der Fahrzeugentwicklung unentbehrlich geworden: der Entwicklungszyklus von Automobilen ist durch die Computer-gestützte numerische Simulation substanziell verkürzt worden. An virtuellen Prototypen gewonnene Ergebnisse können zunächst optimiert und anschließend am realen Prototypen validiert werden. Untersuchungen der Fahrdynamik, des Crash-Verhaltens, der Innenraumakustik und der Außenhautumströmung sind nur einige Anwendungsfelder, in denen Computer-basierte Technologien zur Senkung der Entwicklungskosten beitragen.

Nach den Vorgaben aus dem Design wird ein Konstruktionsmodell erstellt; die erzeugten CAD-Daten beschreiben die Fahrzeugkomponenten anhand parametrischer Flächen und zusätzlicher Materialinformationen. Um die Daten in numerischen Simulationen verwenden zu können, müssen die Flächenbeschreibungen zunächst diskretisiert werden. Für die Strukturmechaniksimulation wird das CAD-Modell daher in ein Finite-Element-Modell umgewandelt, das dann zum größten Teil aus drei- und viereckigen Schalenelementen besteht. Das Finite-Element-Modell wird in einem Vorverarbeitungsschritt aufbereitet und mit zusätzlichen Daten ergänzt, bevor es dem Simulationsprogramm als Eingabedaten übergeben wird. Nach der meist sehr zeitintensiven Simulation, die für Gesamtfahrzeugmodelle mehrere Tage in Anspruch nehmen kann, liegen als Ergebnis große Datenmengen vor. Diese können aufgrund ihres Umfangs und ihrer Komplexität nur mit ausgereiften Visualisierungswerkzeugen ausgewertet werden. Die Erkenntnisse aus der Simulationsanalyse fließen an den Konstrukteur zurück. So schließt sich der Zyklus, der den virtuellen Prototypen solange iterativ verbessert, bis alle Zielgrößen erreicht werden.

Bereits Anfang der achtziger Jahre wurden Strukturanalysen mit Hilfe numerischer Simulation anhand einfacher Balkenmodelle durchgeführt. Die Modellkomplexität geht mit der Leistungssteigerung der Hardware und der Weiterentwicklung der Simulationssoftware einher: die Modellgröße hat sich seitdem alle drei Jahre mehr als verdoppelt. Der Notwendigkeit, dem Entwicklungsingenieur entsprechende Visualisierungswerkzeuge zur Verfügung zu stellen, wurde bisher von den Herstellern der Simulationssoftware mit eigenen Lösungen begegnet. Anfangs entstanden einfache Darstellungsanwendungen, die das Fahrzeug als Gittermodell zeichneten, ohne einen räumlichen Eindruck zu vermitteln; die Applikationen wurden weiterentwickelt, entsprechen jedoch heute in der Regel nicht mehr dem, was im Bereich der Softwareentwicklung und vor allem der Visualisierung Stand der Technik ist.

Der Fortschritt durch wissenschaftliche Forschung in der Computergraphik und die Weiterentwicklung der Hardware, insbesondere der Graphiksubsysteme, lässt die Lücke zwischen dem, was in der Visualisierung möglich ist, und dem, was in kommerziellen Produkten zur Datenanalyse angeboten wird, immer größer klaffen. Zudem ist die Wissenschaft im Bereich der angewandten Informatik stets bemüht, Einsatzgebiete zu identifizieren, in denen neu entwickelte Methoden evaluiert und verbessert werden können. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Ingenieuren und Wissenschaftlern erscheint daher als sehr vielversprechend und zwingend notwendig.

Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen einer engen Kooperation mit der Berechnungsabteilung der BMW-Gruppe entstanden. Sie hat zum Ziel, den bestehenden Fahrzeugentwicklungsprozess im Umfeld der Strukturmechaniksimulation zu analysieren und durch Adaption neuer Methoden der Computergraphik aus anderen Bereichen sowie durch Entwicklung neuer Visualisierungstechniken und Interaktionsmechanismen zu beschleunigen. Eine Evaluation der eingesetzten Konzepte soll anhand einer prototypischen Applikation vorgenommen werden.

Bisher wurde in der Visualisierung im Bereich der Strukturmechaniksimulation auf Basis von vierseitigen Schalenelementen nur wenig geforscht. Für die Analyse von Crash-Simulationsergebnissen müssen große, zeitabhängige Datensätze effizient verarbeitet werden. Dabei soll die Netzstruktur des Finite-Element-Modells erhalten bleiben, ohne dass dabei auf hohe Interaktionsraten verzichtet werden muss. Eine schnelle Datenaufbereitung spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle, wie die Navigation durch das virtuelle dreidimensionale Fahrzeugmodell mit Hilfe der an einem Standardarbeitsplatz vorhandenen Eingabegeräte.

Die Weiterentwicklung der Simulationscodes hat es ermöglicht, Teilstrukturen mit Randbedingungen zu versehen, so dass nun Berechnungen an Teilmodellen vorgenommen werden können. In der Karosserieberechnung werden anstatt homogen vernetzter Gesamtmodelle seitdem unabhängig voneinander vernetzte Bauteile zu virtuellen Fahrzeugmodellen zusammengesetzt. Der Netzanschluss benachbarter Bauteile wird nun nicht mehr über das aufwändige Abgleichen und Nutzen gemeinsamer Randknoten hergestellt; stattdessen überlappen die Bauteilnetze in Flanschbereichen, wo sie durch neu entwickelte Verbindungselemente aneinander gebunden werden. Dies hat unter anderem den Vorteil, dass einzelne Bauteile durch Varianten ausgetauscht werden können, ohne dass die Umgebung neu vernetzt werden muss.

Wichtige Entscheidungen müssen bereits in der frühen Phase eines Fahrzeugprojektes aufgrund der durch numerische Simulation gewonnenen Erkenntnisse getroffen werden. Das setzt voraus, dass die bis dahin verfügbaren Konstruktionsdaten in rechenbare Simulationsmodelle umgesetzt werden können. Durch die unabhängige Vernetzung einzelner Bauteile und den unterschiedlichen Konstruktionsstand der verschiedenen Fahrzeugkomponenten kommt es nach der Zusammenführung häufig zu Berührungen und Durchdringungen der Bauteilnetze im diskretisierten Finite-Element-Modell. Diese müssen zunächst detektiert und beseitigt werden, da sie ansonsten die Simulationsergebnisse verfälschen würden. Darüber hinaus müssen die Bauteilnetze miteinander durch Verbindungselemente verbunden werden. Da die Konstruktionsdaten in der frühen Phase jedoch keine vollständigen Verbindungsdaten beinhalten, muss der Berechnungsingenieur den Datensatz mit entsprechender Information aufbereiten. Die Vorverarbeitung von Eingabedaten für den Simulationsprozess nimmt angesichts steigender Variantenrechnungen und einer halbwegs automatisierten Standardauswertung der Simulationsergebnisse gegenüber der Nachbearbeitung einen immer höheren Stellenwert ein.

Derartige Ergänzungen der Simulationsmodelle mussten bisher mit Hilfe eines Text-Editors direkt an den Eingabedateien vorgenommen werden. Netzfehler und fehlende Anbindungen zwischen Bauteilen konnten lediglich durch Anrechnen des Modells entdeckt werden. Dazu wurde der Simulationsprozess gestartet und nach einiger Zeit wieder abgebrochen. Durch die Analyse der bis dahin berechneten Zwischenergebnisse werden derartige Unzulänglichkeiten des Eingabemodells sichtbar. Vorweggenommene Konsistenzprüfungen machen zeitaufwändige Anrechnungen überflüssig.

Weiteres Prozessoptimierungspotenzial liegt in der Integration und Angleichung verschiedener Werkzeuge. Eine enge Kopplung des Simulationsprozesses an die Vor- und Nachbearbeitung der Daten durch ein und dieselbe Applikation, die sowohl Ein- als auch Ausgabedaten verarbeiten kann, schafft die Grundlage für eine schnelle Iteration im Optimierungsprozess und trägt zur angestrebten Reduzierung der vom Ingenieur zu bedienenden Vielzahl von Applikationen bei.

In Zeiten fortschreitender Globalisierung und Fusionierung, aber auch durch zunehmendes Outsourcing der Teilmodellerstellung an darauf spezialisierte Dienstleistungsunternehmen steigt der Kommunikationsbedarf über räumliche Grenzen hinweg zusammenarbeitender Entwicklungsteams. Kostenintensive Besprechungen, zu denen sich alle Beteiligten an einem Ort zusammenfinden müssen, können nur durch Verbesserung der bereits vorhandenen Fernkommunikationsinfrastruktur reduziert werden. Da auf die gemeinsame Betrachtung der Modelldaten als Diskussionsgrundlage bei Besprechungen nicht verzichtet werden kann, bietet sich eine netzwerkbasierte Kopplung entfernter Arbeitsplätze an, um kleinere Besprechungstermine durch Telefonate mit zeitgleicher kooperativer Visualisierungssitzung am Arbeitsplatzrechner ersetzen zu können.

Ein weiterer Aspekt befasst sich mit der Absicherung der Zuverlässigkeit von Simulationsergebnissen. Um eine Aussage darüber machen zu können, welche Modifikation der Fahrzeugstruktur das simulierte Verhalten positiv beeinflusst hat, müssen zunächst alle Einflussfaktoren, die auf die Simulation wirken, analysiert werden. Dies geschieht in Stabilitätsanalysen, in denen anhand gleicher Eingabedaten die Streuung der Simulationsergebnisse gemessen und die Ursache dafür erforscht wird. Durch konstruktive Maßnahmen soll in Ursprungsbereichen maximaler Streuung das Modell dahingehend modifiziert werden, dass gleiche Eingabedaten zu annähernd gleichen Simulationsresultaten führen.

Ziel dieser Arbeit ist, das Pre- und Postprocessing von Strukturmechaniksimulation im Fahrzeugentwicklungsprozess bezüglich neuer Funktionalität und Leistungsfähigkeit durch die Einbeziehung neuer Graphiktechnologien sowie durch die Entwicklung neuer Visualisierungsalgorithmen signifikant voranzubringen.

B) Beiträge dieser Arbeit

Da die Arbeit in enger Zusammenarbeit mit der Karosserieberechnungsabteilung der BMW-Gruppe entstand und die Forschungsergebnisse direkt von den Ingenieuren an alltäglichen Problemstellungen eingesetzt werden sollten, mussten zunächst Voraussetzungen für eine erhöhte Akzeptanz bei den Anwendern geschaffen werden. Dazu gehören vor allem kurze Ladezeiten der Daten, eine intuitiv zu bedienende Benutzerschnittstelle sowie komfortable Funktionalität, die es ermöglicht, die Aufgaben schneller zu lösen als mit anderen Applikationen. Die Analyse der zu verarbeitenden zeitabhängigen Simulationsdaten und der zum Einlesen zur Verfügung gestellten Bibliothek führte zu einer geeigneten internen Datenstruktur, die eine effiziente Datenaufbereitung erlaubt und damit zu geringeren Start-up-Zeiten führt als bei vielen kommerziell verfügbaren Visualisierungswerkzeugen. Ferner resultiert aus der Evaluation verschiedener Szenengraphbibliotheken unter Berücksichtigung der Rechnerplattform im Anwenderumfeld die Entscheidung zu Cosmo3D / OpenGL Optimizer. Durch die Datenstrukturen und Funktionalitäten der Bibliothek bleibt der Ressourcenbedarf im Zusammenspiel mit einem optimierten Szenengraph-Design im Rahmen dessen, was auf einem Standard-Arbeitsplatzrechner zur Verfügung steht.

Zur Beschleunigung der Bildsynthese werden bereits bekannte Verfahren zur Optimierung polygonaler Modelle für die Weiterverarbeitung in der OpenGL Pipeline mit adaptierten Algorithmen verglichen, die unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden Daten Quadrilateralstreifen maximaler Länge bilden. Zusätzlich wird der Einsatz verschiedener Detailstufen im CAE-Umfeld untersucht und eine Lösung zur deutlichen Steigerung der Bildwiederholrate während der Navigation durch das Finite-Element-Modell präsentiert.

Durch die Entwicklung und Evaluation Textur-basierter Visualisierungsverfahren werden deren Vorzüge anhand verschiedener Beispiele aus dem Berechnungsumfeld verdeutlicht. Daraus lässt sich die Notwendigkeit ableiten, Standard-Arbeitsplatzrechner in Zukunft mit entsprechender Graphik-Hardware auszustatten, um von den Möglichkeiten moderner Visualisierungsalgorithmen profitieren zu können.

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde die Möglichkeit geschaffen, nach dem interaktiven Zusammenführen der Modellkomponenten aus verschiedenen Datenquellen auftretende Netzfehler zu visualisieren und selektiv zu beheben. Dazu kommen auf hierarchischen Datenstrukturen basierende Algorithmen zum Einsatz. Verbunden mit Methoden zur Darstellung und interaktiven Modifikation von Verbindungselementen sowie der Detektion fehlerhafter Schweißpunktdaten wird die Grundlage geschaffen, um Finite-Element-Modelle für die Crash-Simulation effizient aufzubereiten und die Modellerstellung für Variantenrechnungen stark zu vereinfachen. Speziell auf die Bedürfnisse der Berechnungsingenieure zugeschnittene Interaktions- und Navigationsmechanismen sowie frei bewegliche Clip-Objekte erleichtern den Umgang mit den Modelldaten.

Durch die Entwicklung dreidimensionaler Selektionsobjekte und eine effiziente Schnittkraftberechnung steht die Kraftflussvisualisierung mit Hilfe dynamischer Kraftflussröhren nun auch als interaktives Analysewerkzeug im Postprocessing zur Verfügung. Die Berechnung der notwendigen Größen im Batch-Betrieb und die anschließende Zwischenspeicherung in einem eigenen Dateiformat ermöglicht die Standardauswertung von festgelegten Kraftflussverläufen im Anschluss an die Simulation. Dies trägt weiterhin zur Beschleunigung und Automatisierung der Nachverarbeitung bei. Mit der Entwicklung eines Bild- beziehungsweise Filmgenerators konnte mit Ergebnissen dieser Arbeit zur Entwicklung eines Integrationswerkzeuges für die Ablaufsteuerung und das Datenmanagement in der Karosserieberechnung beigetragen werden.

Es werden zwei Lösungen für Szenarien einer kooperativen Sitzung mit mehreren Rechnern präsentiert. Die Ergebnisse zeigen auf, wie zeitaufwändige Treffen zwischen Ingenieuren durch Telefonate mit gleichzeitiger kooperativer Visualisierungssitzung ersetzt werden können. Das vorgestellte Verfahren zur Stabilitätsanalyse von Simulationsprozessen hilft, Ursprünge von Instabilitäten aufzudecken und die Aussagekraft der Simulationsergebnisse verbesserter Modelle zu erhöhen.

Durch diese Arbeit ist eine prototypische Visualisierungsplattform für die Vor- und Nachbereitung von Strukturmechanikdaten namens crashViewer entstanden. Das objektorientierte Softwaredesign des Prototypen erlaubt die Integration weiterer Datenformate sowie die Implementierung neuer Algorithmen zu deren Evaluation im produktiven Einsatz in der Karosserieberechnung, aber auch in anderen CAE-Bereichen.

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Opus Uni Stuttgart
Abteilung(en)Universität Stuttgart, Institut für Visualisierung und Interaktive Systeme, Visualisierung und Interaktive Systeme
Eingabedatum24. Juli 2005
   Publ. Institut   Publ. Informatik